Vulvodynie

Die Vulvodynie ist ein komplexes chronisches Schmerzsyndrom im Bereich der Vulva, das sich durch Schmerzen auszeichnet, die länger als drei Monate andauern und für die keine klare organische Ursache gefunden werden kann. Sie wird auch als vulväre Dysästhesie bezeichnet.

Was sind Einflussfaktoren?

Die genauen pathophysiologischen Mechanismen sind komplex und multifaktoriell. Mögliche korrelierende Faktoren sind:

  • Neurologische Mechanismen: Es wird eine gesteigerte Innervation des vulvären Vestibulums diskutiert. Bei lokalisierter Vulvodynie wurde eine signifikant höhere vulväre Innervation im Oberflächenepithel und eine erhöhte Anzahl von Mastzellen mit vermehrter Degranulation gefunden, was zu erhöhter Schmerzempfindlichkeit führen kann.
  • Inflammation und Infektionen: Obwohl Vulvodynie per se keine entzündliche Krankheit ist, spielen lokale und chronische Entzündungen eine Rolle. Wiederholte urogenitale Infektionen wie vulvovaginale Candidose (RVVC) oder Harnwegsinfektionen (HWI) stellen ein Risiko dar und können die Schmerzen verstärken. Frauen mit Vulvodynie zeigen möglicherweise ein immunologisches Defizit gegen lokale Candidosen und eine Hypersensibilisierung der Haut auf Candida albicans.
  • Hormoneller Einfluss: Östrogene und Gestagene können als Schmerzmodulatoren wirken. Eine mögliche Korrelation besteht zwischen oraler Kontrazeption und der Entwicklung von Vulvodynie, insbesondere provozierter Vestibulodynie, wobei die Einnahme von gestagen- und androgenbetonten Ovulationshemmern mit weniger Östrogenen das Risiko erhöhen kann.
  • Muskuloskelettale Faktoren: Eine Hyperaktivität der Beckenbodenmuskulatur kann eine Ursache oder Verschlimmerung der Symptomatik sein.
  • Psychosoziale Faktoren: Stress und psychische Belastung sind Risikofaktoren. Angststörungen (zehnmal häufiger) und Depressionen (dreimal häufiger) kommen bei Frauen mit Vulvodynie, insbesondere provozierter Vestibulodynie, gehäuft vor. Auch posttraumatische Belastungsstörungen und negative Erfahrungen in jungen Jahren können eine Rolle spielen. Psychische Beeinträchtigungen werden eher als Folge des chronischen Schmerzes und nicht als primäre Ursache angesehen.

Was sind Krankheitsursachen und -verläufe (Epidemiologie)?

  • Prävalenz: Vulvodynie ist eine relativ häufige Erkrankung. Erste große US-Studien in den 2000er Jahren zeigten eine Prävalenz zwischen 3,0 % und 16,0 % bei Frauen jeden Alters und jeder Herkunft. Eine Lebenszeitprävalenz von 9,9 % wurde in einer Studie von Arnold et al. (2007) ermittelt. In Portugal betrug die Lebenszeitprävalenz 16,0 %, in Spanien 6,6 %. Im deutschsprachigen Raum gab es 2017 eine Dissertation, die einen Anteil von 33,1 % Vulvodyniepatientinnen in einem Kollektiv mit chronischen Schmerzsyndromen zeigte.
  • Alter: Vulvodynie kann in jedem Alter auftreten, von der Kindheit bis zum Senium. Die meisten symptomatischen Frauen sind jedoch zwischen 20 und 50 Jahre alt. Die höchste Prävalenz der Krankheit liegt bei Frauen unter 25 Jahren. Die provozierte Vulvodynie ist häufiger bei jüngeren Frauen, während die spontane Form mit dem Alter zunimmt und häufiger bei älteren Patientinnen auftritt.
  • Ethnische Herkunft: Die Krankheit kann jede Ethnizität betreffen. Frauen hispanischer Ethnizität haben eine um 80 % höhere Wahrscheinlichkeit, an Vulvodynie zu erkranken.
  • Sozioökonomischer Status: Vulvodynie wird häufiger bei Frauen mit höherem sozioökonomischen Status und höherer Bildung beobachtet.
  • Komorbiditäten: Es besteht eine starke Assoziation zwischen Vulvodynie, insbesondere der provozierten Vestibulodynie, und anderen chronischen Schmerzsyndromen. Dazu gehören Fibromyalgie, Reizblase/Interstitielle Zystitis (IC/BPS), Reizdarm-Syndrom (RDS), Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD), chronisches Fatigue-Syndrom und Migräne. Fast jede zweite Frau mit Vulvodynie berichtet über ein oder mehrere chronische Schmerzsyndrome. Die häufigsten Komorbiditäten in einer deutschen Studie waren CMD (19,9 %) und Reizblase/IC (19,3 %).

Wie äußert sich Vulvodynie?

Das kardinale Symptom ist ein diffuser Schmerz, oft als Brennen ("wie Feuer") oder Stechen ("wie ein Messerstich") beschrieben. Weitere Beschwerden können Pruritus, lokale Irritationen, Trockenheitsgefühl, Wundheitsgefühl oder ein pochesndes Gefühl sein. Dyspareunie (Schmerzen beim Geschlechtsverkehr) ist ein häufiges Symptom bei provozierter Vestibulodynie (58,4 % der Patientinnen in einer Studie).

Wie verläuft die Diagnose?

Die Diagnose der Vulvodynie ist eine Ausschlussdiagnose, die auf einer ausführlichen Anamnese und sorgfältiger Diagnostik basiert. Dies kann bis zu 60 Minuten in Anspruch nehmen.

  • Anamnese: Umfassende Erfassung von Beschwerden (Charakter, Lokalisation, Dauer, Auslöser), bisherigen Therapieversuchen, allgemeiner und gynäkologischer Anamnese (Menstruationszyklus, Hormonstatus, Geburten, frühere Eingriffe), Medikamenteneinnahme, Allergien, Sozial- und psychischer Anamnese sowie Sexualanamnese.
  • Klinische Untersuchung:
    • Inspektion der Vulva: In den meisten Fällen unauffällig, aber ein vestibuläres Erythem kann vorhanden sein.
    • Wattestäbchentest (Q-Tip-Test): Unentbehrlich zur Diagnose. Er bestätigt die Allodynie (gesteigerte Schmerzempfindlichkeit auf normalerweise nicht schmerzhafte Reize) und hilft, die Schmerzzone zu kartographieren. Ein negativer Test schließt Vulvodynie aus.
    • Vaginale Untersuchung: Beurteilung des Muskeltonus des Beckenbodens, Ausschluss von Vaginismus oder Pudendus-Neuralgie.
    • pH-Messung und Mikroskopie des Nativpräparates: Dient dem Ausschluss anderer Pathologien wie Infektionen oder Atrophie. Diese Befunde sind bei Vulvodynie selbst meist unauffällig.
    • Pilzkultur/Bakteriologische Kultur: Zum Ausschluss von Pilz- oder bakteriellen Infektionen.
    • Biopsie: Nicht routinemäßig empfohlen, es sei denn, es gibt klinische Auffälligkeiten. Histologische Veränderungen wie entzündliche Infiltrate sind nicht spezifisch.
    • Bildgebung (MRT): Nicht zwingend erforderlich, kann aber bei therapierefraktärer spontaner generalisierter Vulvodynie oder einseitiger Vulvodynie zum Ausschluss neurologischer Ursachen indiziert sein.
  • Screening auf psychosozialen Status: Aufgrund der starken Assoziation mit Angststörungen und Depressionen ist ein Screening wichtig.
  • d-FSFI: Der Female Sexual Function Index (d-FSFI) ist ein validiertes Instrument zur Evaluation der weiblichen Sexualfunktion und dient der Verlaufskontrolle vor und nach Therapie. Er bewertet sechs Bereiche: Lust, Erregung, Lubrikation, Orgasmus, Befriedigung und Schmerz. Patientinnen mit Vestibulodynie zeigen typischerweise eine gestörte Sexualfunktion mit einem niedrigen d-FSFI-Score.

Gibt es Therapie- und Managementmöglichkeiten?

Vulvodynie gilt oft als unheilbar, aber mit Ausdauer und Flexibilität sind Heilung oder zumindest eine Besserung möglich. Es gibt keine gesicherte Standardtherapie. Ein multidisziplinärer und multimodaler Ansatz wird empfohlen, der primär die Schmerzkontrolle, die Verbesserung der Lebensqualität und des Sexuallebens sowie die Wiederaufnahme täglicher Aktivitäten zum Ziel hat.

  • Strategien für das Self-Management:
    • Umfassende Patienteninformation und -unterstützung: Aufklärung über die Krankheit, Prognose und Therapiemöglichkeiten.
    • Anpassung des Lebensstils: Vermeidung irritierender Faktoren wie übertriebene Hygiene, Seifen, synthetische Unterwäsche, Duschgele, Deodorants. Verwendung von klarem Wasser oder pH-neutralen Intimwaschlotionen, Baumwollunterwäsche.
    • Akute Symptomlinderung: Sitzbäder mit Natron/Soda (lauwarm), lokale Kühlung, Auftragen von Olivenöl, pflanzlichem Öl oder Zinkpaste.
  • Pharmakologische Therapie: Zielt auf die Regulierung neuropathischer Schmerzen ab.
    • Lokale Medikamente:
      • Lidocain (2 % Gel oder 5 % Salbe): Als Akuthilfe zur Desensibilisierung vestibulärer Nerven, kurzfristige Schmerzreduktion, vor sexueller Aktivität anwendbar.
      • Amitriptylin/Baclofen (2 % Creme): Kombinationstherapie mit positiven Ergebnissen. Auch Doxepin und Gabapentin lokal.
      • Östrogene/Testosteron lokal: Zur Behandlung von Atrophie oder Östrogendefizit.
    • Orale Medikamente:
      • Trizyklische Antidepressiva (z.B. Amitriptylin, Desipramin): Erstlinientherapie bei neuropathischen Schmerzen, wirken durch Hemmung der Noradrenalin- und Serotonin-Wiederaufnahme.
      • Antikonvulsiva (Gabapentin, Pregabalin): Hilfreich bei neuropathischen Schmerzen.
      • Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI): Können das "Schmerzgedächtnis" verändern.
      • Endogene Cannabinoide (PEA): Lokal oder oral.
  • Nicht-pharmakologische Therapien:
    • Psychotherapie: Kognitive Verhaltenstherapie zur Schmerzbewältigung, Stressreduktion und Verbesserung der sexuellen Befriedigung. Bei sexuellen Schmerzen und Beeinträchtigung des Sexuallebens: psychosexuelle Beratung und Paartherapie.
    • Physiotherapie und Beckenbodentherapie: Bei ausgeprägter Spannung der Beckenbodenmuskulatur. Übungen, Weichteilmobilisation, Gelenkmanipulation.
    • Biofeedback: Zur besseren Schmerzkontrolle durch Stärkung des Beckenbodens und Entspannung der Muskulatur.
    • Alternative/Komplementäre Therapien: Hypnotherapie, Akupunktur (positive Wirkung auf Lebensqualität), Nervenblockaden, Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), Botulinumtoxin A (Botox).
    • Pflanzliche Mittel: Wässrige Extrakte aus Zinnkraut (Ackerschachtelhalm) und bestimmte Aromaöle (z.B. Mandelöl). Auch Hyaluronsäure und Squalen können sinnvolle Ergänzungen sein.
  • Operative Therapie: Die Vestibulektomie (operative Entfernung der betroffenen Vulvaregion) ist als "ultima Ratio" (letztes Mittel) anzusehen, wenn alle konservativen Maßnahmen ausgeschöpft sind. Sie ist nur für Patientinnen mit provozierter, lokalisierter Vestibulodynie geeignet. Früher empfohlene Techniken wie Vestibuloplastie oder Lasertherapie gelten als ineffektiv.

Wichtige Beobachtungen: 

  • Häufig vergehen Jahre und es sind mehrere Arztkonsultationen nötig, bis zur richtigen Diagnosestellung.
  • Eine therapeutische Haltung, die Geduld, Ruhe und Optimismus ausstrahlt, kann den Heilungsprozess fördern.
  • Eine zu schnelle Psychologisierung oder Überweisung zum Psychotherapeuten sollte vermieden werden, da dies zur Beendigung der Arzt-Patienten-Beziehung führen kann.
  • Die Einbeziehung des Partners in einem Paartherapie-Setting mit Anleitungen zu Körperübungen kann dazu beitragen, dass Schmerz allmählich zu Lust wird.

Quellen:

Hennge, U: R. & Runnebaum, I. B. (2005)

Ost, B. (2023)

Richter, D. (2022)

Vartholomaiou, A. (2023)